Europas Keramikindustrie schlägt Alarm

Italien und Spanien warnen geschlossen vor den Folgen der ETS-Reform

Die europäische Keramikindustrie gehört seit Jahren zu den effizientesten Industriebranchen der Welt – und steht dennoch vor einer strukturellen Krise. Bei den European Ceramic Days in Brüssel richten sowohl der italienische Herstellerverband Confindustria Ceramica als auch der spanische Verband ASCER einen eindringlichen Appell an Politik und EU-Institutionen: Ohne eine Kurskorrektur im Emissionshandelssystem könnte Europa eine Schlüsselindustrie verlieren.

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Das Bild, das beide Verbände in Brüssel zeichnen, ist eindeutig. Die geplanten ETS-Regelungen ab 2026 treffen einen Sektor, der aufgrund seiner energieintensiven Prozesse kaum kurzfristige technologische Alternativen hat und gleichzeitig einer der am stärksten exportorientierten Industriezweige der EU ist. Italien verweist auf 248 Unternehmen, 26.000 direkte Beschäftigte und einen Exportwert von mehr als sechs Milliarden Euro. Spanien unterstreicht die enorme Bedeutung des Clusters rund um Castellón, wo die Keramikbranche ein Drittel des regionalen Bruttoinlandsprodukts repräsentiert und zehntausende Arbeitsplätze sichert. Zugleich betonen beide Länder, dass die europäische Keramikindustrie weltweit führend bei Energieeffizienz und Emissionsminderung ist – eine Position, die durch jahrzehntelange Investitionen in moderne Technologien und hochoptimierte Prozesse erreicht wurde.

Doch genau dieser Fortschritt droht nun zu einer Schwachstelle zu werden. In Italien brechen Investitionen im Jahresvergleich um gut ein Fünftel ein – ein Rückgang, der exakt den ETS-Kosten entspricht, die die Unternehmen zuletzt zahlen mussten. Vom Verband ist zu hören, dass das ETS faktisch zu einer CO₂-Steuer geworden ist, die Innovationen erstickt statt ermöglicht. Auch in Spanien wächst die Sorge. Dort rechnen die Unternehmen mit einer drastischen Reduktion der kostenlosen Emissionszertifikate um rund ein Drittel, was zu dreistelligen Millionenbeträgen an zusätzlichen jährlichen CO₂-Kosten führen würde. Parallel soll die Vergütung für Kraft-Wärme-Kopplung um mehr als ein Drittel sinken, was die Belastung weiter verstärkt. Zusammengenommen übersteigt die regulatorische Kostenlast inzwischen den Großteil des Nettogewinns der spanischen Branche – in einem Marktumfeld, das ohnehin von Importdruck und geringer Marge geprägt ist.

Das ETS ist faktisch zu einer CO₂-Steuer geworden. Foto: Shogun/ Pixabay

Regulierung, die das Gegenteil bewirkt

Beide Länder eint die Einschätzung, dass eine Klimapolitik, die effizienteste Industrien zusätzlich belastet, international keine positive Wirkung entfaltet. Vielmehr warnen die Verbände vor einer Verlagerung der Produktion in Regionen, die weder vergleichbare Umweltstandards haben noch über die gleichen sozialen und technologischen Voraussetzungen verfügen. In der Praxis bedeute dies, dass Emissionen lediglich geografisch verschoben werden – und global sogar steigen könnten. Während europäische Hersteller mit immer strengeren Regeln und hohen Zertifikatepreisen konfrontiert werden, agieren Wettbewerber in China, Indien oder der Türkei weitgehend ohne vergleichbare Auflagen. Die Folge wäre ein schleichender Verlust industrieller Kapazitäten, verbunden mit sinkenden Investitionen, Werksschließungen und einem Abbau qualifizierter Arbeitsplätze.

In Italien ist die Sorge besonders groß, dass sich die Situation des Automobilsektors wiederholen könnte – mit einer Übergangspolitik, die gut gemeint ist, aber an den realen technischen Möglichkeiten vorbeigeht. Vertreter der Region Emilia-Romagna sprechen offen von der Gefahr einer „De-Industrialisierung durch Regulierung“ und kritisieren, dass modernste Werke mit digitalisierten und hoch effizienten Produktionslinien durch ein unausgewogenes Regelwerk benachteiligt werden. Ähnliche Töne kommen aus Spanien, wo der Verband betont, dass ein grüner Wandel nur dann funktionieren kann, wenn er industriell praktikabel und sozial tragfähig ist. Die Forderung nach „Kohärenz und Verantwortung“ ist in beiden Ländern identisch.

Gemeinsame Forderung nach einem realistischen Kurswechsel

In Brüssel wird deutlich, dass die Branche keinen Freifahrtschein verlangt, sondern realistische Rahmenbedingungen, die den technologischen Status quo berücksichtigen. Beide Länder sprechen sich für eine Überprüfung der anstehenden ETS-Reform aus und plädieren für einen Übergangszeitraum, der nur dann schrittweise enger gefasst wird, wenn tatsächlich marktreife Alternativen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig fordern sie eine faire Behandlung energieintensiver Industrien bei indirekten Kosten, eine funktionierende Absicherung durch den CO₂-Grenzausgleich (CBAM) und eine Entlastung kleinerer und mittlerer Betriebe, die von der komplexen Regulierung besonders betroffen sind.

Die europäische Keramikindustrie hat Milliarden investiert, um ihre Prozesse zu modernisieren und Emissionen zu senken.
Die europäische Keramikindustrie hat Milliarden investiert, um ihre Prozesse zu modernisieren und Emissionen zu senken.

Insgesamt entsteht der Eindruck eines Sektors, der sich seiner Verantwortung bewusst ist, aber an einer politischen Realität scheitert, die Fortschritt mit Überforderung verwechselt. Die Verbände warnen davor, vorschnell immer neue Pflichten aufzuschichten, während grundlegende technische Lösungen schlicht nicht existieren. Regulierung dürfe Entwicklungen beschleunigen, aber nicht erzwingen, wo physikalische oder wirtschaftliche Grenzen gesetzt sind.

Ein Wendepunkt für Europas Keramikindustrie

Die Diskussion in Brüssel zeigt, wie sensibel das Gleichgewicht zwischen Klimapolitik und industrieller Wettbewerbsfähigkeit geworden ist. Die europäische Keramikindustrie hat Milliarden investiert, um ihre Prozesse zu modernisieren und Emissionen zu senken. Nun steht sie vor der paradoxen Situation, dass genau diese Vorreiterrolle durch ein immer dichteres Netz an Regeln und Kosten bestraft wird. Italien und Spanien formulieren es unmissverständlich: Ein nachhaltiger Übergang gelingt nur, wenn er auf realen technischen Möglichkeiten basiert. Andernfalls drohen Rückschritte, die nicht nur ganze Regionen treffen, sondern auch Europas Anspruch auf industrielle Führungsstärke untergraben.

In der Summe steht der europäische Keramiksektor an einem Wendepunkt. Entweder gelingt eine pragmatische Anpassung der politischen Vorgaben – oder Europa riskiert die schrittweise Erosion einer Industrie, die seit Jahrzehnten Qualität, Innovation und Nachhaltigkeit verbindet.

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