Die Ruhe vor dem Sturm
Cersaie 2022 spiegelt die Unsicherheiten der Branche wider
Wohl selten hat eine Cersaie so viele Fragezeichen produziert wie die diesjährige Ausgabe der weltweit wichtigsten Fliesenmesse. Trotz Rekordumsätzen im ersten Halbjahr blickt die Branche mit großer Unsicherheit auf die kommenden Monate.
Ein Industrie-Manager formulierte es etwas blumiger, aber treffend: „Es ist, als wenn man durch ein großes Nebelfeld laufen würde und nicht weiß, wohin der Weg geht.“ Fakt ist, dass die überaus erfreulichen Umsatz- und Absatz-Zahlen des ersten Halbjahres 2022 nur unschwer darüber hinwegtäuschen, dass dies nur vorgezogene Umsätze sind. Denn die Kunden haben sich nach dem Beginn der Krise massiv ihre Läger gefüllt, um eventuellen Lieferausfällen vorzubeugen. Der Faktor Lieferfähigkeit ist sogar für viele Unternehmen zum primären Unternehmensziel geworden.
In Deutschland haben einige Händler sogar eigens neue Lagerhallen angemietet, um ausreichend Material vorhalten zu können. Die Vorsorgungssicherheit scheint damit zumindest bis zum Jahresende mehr oder weniger gesichert. Was danach kommt steht in den Sternen. Diese vorgezogenen Umsätze werden im zweiten Halbjahr definitiv fehlen, auch weil die Energiepreise förmlich durch die Decke schießen und eine wirtschaftlich vernünftige Produktion kaum noch möglich machen. Schon nach den italienischen Sommerferien haben viele Werke – Insider sprechen von 40 % der italienischen Hersteller! – gar nicht erst wieder die Produktion aufgenommen oder Kurzarbeit beantragt – einige für Wochen, andere für Monate.
Keine ökologische Nachhaltigkeit ohne wirtschaftliche
Angesichts des enormen Anstiegs der Energiepreise, durch den die Unternehmen mit Verlust arbeiten würden, zieht man es vor, die Produktion zu stoppen. Das Problem betrifft vor allem kleinere Unternehmen und solche, die keine Festpreis-Energielieferverträge abgeschlossen haben. „Es gibt keine ökologische Nachhaltigkeit, wenn davor keine wirtschaftliche Nachhaltigkeit steht. Die Herstellung eines Quadratmeters Fliesen kostet uns jetzt 9 Euro allein an Erdgas“, so die Einschätzung der aktuellen Lage von Giovanni Savorani, Präsident des Industrieverbands Confindustria Ceramica.
Italien bezog fast 45 Prozent seines Gases aus Russland und bemüht sich wie alle Europäischen Länder, sich unabhängiger von russischem Gas zu machen. Leider kommt auch ein Großteil der Tone aus Ukraine, was die Situation für die Italiener weiter verschärft hat. Ein Industriemanager meinte in Bologna in einem Gespräch mit 1200Grad etwas süffisant, dass sich mit dem Handel bzw. Verkauf von Gas bzw. Gasrechten aktuell mehr Geld verdienen lasse als mit Keramikfliesen.
Fast alle Fliesen-Werke haben in den vergangenen Monaten deshalb Energie-Aufschläge auf ihre Preise aufgerechnet. Das wurde von den Kunden zwar murrend, aber insgesamt verständnisvoll hingenommen. Jetzt scheren einige Unternehmen anscheinend wieder aus, allen voran der spanische Hersteller Pamesa. Das hat erhebliche Unruhe in den Markt gebracht, weil diese Entscheidung auch die anderen Werke in Zugzwang bringen könnte, ihrerseits die Preise wieder zu anzupassen.
Volle Gänge, wenig Trends
Die Cersaie selbst zeigt sich von den Turbulenzen des Marktes nach außen recht unbeeindruckt. Die Gänge der Messehallen waren gefühlt so voll wie vor der Corona-Welle. Was die Qualität der Besucher angeht, haben wir unterschiedliche Stimmen gehört: Einige Aussteller berichteten davon, dass sie weniger deutschen Händler in Bologna begrüßen konnten, andere wiederum sprachen von einem guten Besuch des deutschen Handels.
Im Vorfeld der Messe stand die Cersaie bereits massiv in der Kritik, weil einige große Unternehmen, wie z.B. Marazzi oder die Iris-Gruppe, ihre Kunden mit erheblichem organisatorischem Aufwand in ihre Werke bei Sassuolo gebracht haben. Das ist mit einem enormen Zeitaufwand verbunden, allein die An- und Abreise verschlingt fast zwei Stunden. In dieser Zeit fehlen die Besucher bei anderen Ausstellern, die dieses Geschäftsgebaren verständlicher Weise nicht so toll finden. Die fehlenden Hersteller begründen ihren Schritt mit einer besseren Effektivität der Besucher-Betreuung und auch mit Gründen der Nachhaltigkeit, wie z.B. Tanja Pahlke von der Iris-Gruppe im Gespräch mit 1200 Grad erläuterte (siehe unser Interview hier)
Jährliche Cersaie steht weiter zur Diskussion
Hier mag sich jeder sein eigenes Urteil fällen. Fakt ist jedoch, dass der jährliche Messerhythmus der Cersaie angesichts der geschilderten Rahmenbedingungen immer mehr in die Diskussion gerät. Eine Diskussion, die die Cersaie schon seit vielen Jahren begleitet. Eine Branche, die ein Produkt herstellt, das mindestens 10 Jahre im Einsatz ist, kann sich einen jährlichen Neuheiten-Rhythmus eigentlich nicht leisten. Wenn die Neuheiten in den Regalen des Handels landen, steht schon fast wieder eine neue Messe vor der Tür. Die enormen Kosten für die Messe sind angesichts der Kostenexplosionen eigentlich für die Werke nicht mehr zu rechtfertigen. Aber anscheinend gibt es neben der Messegesellschaft selbst immer noch Befürworter für einen jährlichen Rhythmus, die hier einer Veränderungen einen Riegel vorschieben.
Insofern mag es nachvollziehbar sein, dass in diesem Jahr so wenig deutsche Fliesen- und auch Zubehörhersteller wie noch nie zuvor in Bologna präsent waren. Die Liste der namhaften Absagen ist ebenso lang wie prominent: Villeroy& Boch, Agrob Buchtal, Ströher, Alferpro, Proline sind da nur ein paar Beispiele. Für die Außenwirkung sind diese Lücken in den Messehallen aber fatal: Denn wer auf der Cersaie nicht präsent ist, findet international nicht wirklich statt.
Infektionen dürften anziehen
Dass viele Besucher nach Corona froh waren sich wieder live zu treffen, war auch in diesem Jahr spürbar. Allerdings dürfte die Freude über den Messebesuch zuhause für viele Messebesucher schnell wieder verebbt sein, denn die Infektionsrate wird angesichts fehlender Masken und Hygiene-Vorschriften nach Messeschluss deutlich in die Höhe schießen. Unsere Redaktion, in Bologna mit fünf Mitarbeiter vor Ort, war davon selbst bereits nach zwei Tagen mit zwei Infektionen betroffen.
Ihren Status als Neuheiten- und Innovations-Show der Branche hat die Cersaie in den vergangenen Jahren bereits ein wenig eingebüßt. Das liegt zum einen daran, dass die technischen Möglichkeiten mit der Digitaltechnik zunehmend ausgereizt scheinen und den Herstellern auch im Designbereich nach unserer Auffassung nicht wirklich viel neues einfällt. Natursteinimitationen scheinen das Maß aller Dinge, der Großformat-Trend ist ebenfalls nicht aufzuhalten. In diesem Jahr gab es zwar hier und da an einigen Messeständen etwas mehr Mut zur Farbe zu begutachten (vor allem mit der Trendfarbe Blau), aber von einem echten Trend zu sprechen fällt da schwer.
Und so dürfte sich die Branche auch im Jahr 2023 wieder in Bologna ein Stelldichein geben. Dann hoffentlich ohne Corona und Energiekrise und einer hoffentlich befriedeten Ukraine!
Bitte schauen Sie auch unsere Video-Interviews von der Cerasaie auf unserer Cersaie-Sonderseite.