“Rückgang der Nachfrage für uns nicht vorstellbar gewesen”

Interview mit Peter Wilson, Vorstand der Steuler Fliesengruppe

In der vergangenen Woche hat die Steuler Fliesengruppe einen Antrag auf die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens unter Eigenregie gestellt, dem inzwischen auch stattgegeben wurde. Die Schieflage – nach Menge – von Deutschlnds größtem Fliesenhersteller hat viele Marktteilnehmer überrascht. Wir sprachen mit Peter Wilson, Vorstand der Steuler Fliesengruppe, über die Hintergründe.

Können Sie noch mal erläutern, was die Schieflage ausgelöst hat?

Zwei wesentliche Faktoren haben hier eine Rolle gespielt:

Zum einen ist die Entwicklung der Energiekosten anders gekommen, als wir antizipiert haben.
Zum anderen ist der dramatische Rückgang der Nachfrage für uns nicht vorstellbar gewesen.

Zur Energie:

Unsere Planung sieht immer vor, dass wir durchgehend produzieren und nur dann Unterbrechungen vorsehen, wenn Wartungsarbeiten durchgeführt werden sollen. Dadurch bleiben wir wettbewerbsfähig, auch in einem schwierigen Markt. Diese Vorgehensweise setzt voraus, dass wir adäquat unseren Energiebedarf im Vorfeld decken und somit eine Planungssicherheit erzielen und die Verfügbarkeit der Produkte weitestgehend gewährleisten können. Diese Beschaffungspolitik ist nicht nur Tradition bei Steuler, sondern hat sich gerade im chaotischen Jahr 2022 als richtig erwiesen.

Während wir eine Absicherung des Bedarfs vorzeitig kontraktiert haben, sind die Kosten ständig gestiegen, sodass wir geglaubt haben, dass wir zu wettbewerbsfähigen Durchschnittskosten gekauft hatten. Wir haben dann allerdings feststellen müssen, dass die Preise gerade zum Beginn des neuen Jahres dramatisch sanken.

Zum Marktrückgang:

In über 20 Jahren Tätigkeit in der keramischen Fliese habe ich einen solchen schnellen Rückgang der Nachfrage nicht nur nicht erlebt, sondern er ist für mich gar nicht vorstellbar gewesen. Noch heute kann ich es nicht erklären, wie diese negative Dynamik zustande kommen konnte.

Noch heute kann ich es nicht erklären, wie diese negative Dynamik zustande kommen konnte.

Dies ist ein Marktproblem und nicht ein spezifisches Steuler-Problem; das zeigen uns die Statistiken. Wir haben planerisch antizipiert, dass der Jahresbeginn schleppend sein wird. Im letzten Jahr im März wurden deutlich überproportionale Umsätze erzielt, da die Kunden unsicher bezüglich der Wirkung des Krieges in der Ukraine waren. Dementsprechend war die Umsatzentwicklung in den Folgemonaten und gerade zum Jahresende eher unterdurchschnittlich.

Der Start in 2023 war, wie gesagt, schwach aber gerade Mai hat uns dann Hoffnung gemacht, da die Absatzentwicklung im Monatsverlauf offensichtlich sukzessive steigend war. Leider ist der Umsatz dann im Juni so schwach gewesen, dass wir uns entschieden haben, den Forecast komplett zu überprüfen und eine Plausibilisierung der Rahmenbedingen durchzuführen.

Dies ist ein Marktproblem und nicht ein spezifisches Steuler-Problem; das zeigen uns die Statistiken.

Hierbei sind wir zum Ergebnis gekommen, dass die Monate Juli und August doch deutlich schwächer sein werden, als wir es in unserem Forecast noch im April vorgesehen hatten. Die Lage für das Unternehmen haben wir als kritisch gesehen und wir fühlten uns dazu gezwungen, neue Szenarien zu überprüfen. Leider sind wir dann zum Ergebnis gekommen, dass wir beide gravierenden Faktoren – Marktrückgang und hohe Energiekosten – nicht aus eigener Kraft bewältigt bekommen.

Zwischen der Ankündigung, dass ein Insolvenzverfahren kommen könnte und der Meldung, dass es beantragt wurde, lag dann nur ein Tag. Ich denke, das hat viele Marktteilnehmer überrascht…

Die erste ad hoc Meldung haben wir am Freitag gepostet; die Meldung der Einleitung des Insolvenzverfahren (gewünscht und letztlich genehmigt in Eigenverwaltung) kam am Dienstag. Ja, dazwischen war das Wochenende und bitte sehen Sie es mir nach, Herr Schanze; in solchen Zeiten gibt es kein Wochenende! Wir haben weiterhin unsere Möglichkeiten sorgfältig geprüft und die Zeit dafür genutzt. Als wir allerdings nach dem Wochenende erkennen mussten, dass die Alternativen eher unwahrscheinlich sind, haben wir nicht gezögert und unverzüglich Insolvenzanträge gestellt.

Grundsätzlich hätte es mich überrascht, wenn die Marktteilnehmer nicht von dieser Meldung überrascht wären! Bei Steuler haben wir jahrelang eine nachvollziehbare Politik geführt und auch offen über unsere Entwicklung gesprochen und berichtet. Wir kamen aus 2022 mit einem erfolgreichen Turnaround, nachdem wir in den Vorjahren Verluste erzielt hatten. In 2022 haben wir gezeigt, dass es durchaus möglich ist, in Deutschland Fliesen herzustellen und gewinnbringend zu vermarkten. Unsere Strategie hat erfolgreich Corona, die erste Energiekrise (die Energiekostensteigerung hat schon in 2021 begonnen) und sogar weitestgehend die zweite Energiekrise, die durch den Beginn des Ukraine-Krieges entstand, überstanden und uns wieder in die Profitabilität gebracht.

Grundsätzlich hätte es mich überrascht, wenn die Marktteilnehmer nicht von dieser Meldung überrascht wären!

Wir waren bei der Planung bezüglich 2023 verhalten optimistisch und haben darauf gesetzt, dass unsere Entwicklung sich fortsetzen wird. Anlass anders zu denken, sahen wir nicht. Somit sind unsere Vertriebsmitarbeiter optimistisch in den Markt gegangen. Die Absatzentwicklung hat uns überrascht und der Blick nach vorne zeigte keine wesentlichen Änderungen zumal die Politik sich wenig für die Baubranche und die hiermit verbundene Industrie interessiert. Auf jeden Fall nahmen und nehmen wir keine Signale wahr.

Des weiteren hat es viele gewundert, dass Steuler nicht eine dickere Kapitaldecke hat, um solche Schwankungen aufzufangen, schließlich erwirtschaftet die Gruppe ja in anderen Bereichen gute Erträge.

Als AG veröffentlichen wir regelmäßig und somit ist unsere Ertrags- und Kapitalsituation nachlesbar. Steuler ist – und bleibt – weiterhin unser Hauptaktionär und hat grundsätzlich Interesse, das Unternehmen weiterhin zu unterstützen. Der Absatzeinbruch ist allerdings zu spontan und zu heftig gekommen. Wir haben den Turnaround in 2022 geschafft und das Jahr profitabel abschließen können. Allerdings ist das nicht ausreichend gewesen, um bei dem Marktrückgang, wie wir ihn jetzt erleben, durchzukommen. Steuler hat uns immer unterstützt und wird das auch weiter tun, nur ist es – glaube ich – verständlich, dass die Bereitschaft, zusätzliche Unterstützung zu liefern, nicht unbegrenzt sein kann. Jetzt haben wir die Gelegenheit, uns neu zu sortieren und aufzustellen.

Steuler hat uns immer unterstützt und wird das auch weiter tun…

Wie sehen Sie den Weg des Unternehmens in den nächsten 3-6 Monaten?

Wir befinden uns in einem Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung und die sogenannte vorläufige Phase hat mit der Zustimmung des Richters begonnen. Wir haben uns Unterstützung durch die renommierte Kanzlei Ebner Stolz geholt. Wir haben es hier mit wirklichen Experten in diesem Thema zu tun und sie haben uns jetzt schon sehr geholfen. Wir haben bei Antragsstellung alles erreicht, was wir erreichen wollten, was enorm hilfreich ist und sein wird für den Weg, den wir jetzt gehen.

Wie groß ist ihr Optimismus, dass die Steuler Fliesengruppe wieder auf sicheren Füßen landet?

Ich bin optimistisch, dass wir durchkommen werden. Zum einem sind die sehr fortgeschrittenen Gespräche mit dem strategischen Investor sehr vielversprechend. Zum anderen werden wir von wirklichen Profis – Ebner Stolz – unterstützt. Sicherlich spielt die Marktentwicklung eine wichtige Rolle und wir haben alle zurzeit damit zu kämpfen und die Parameter müssen besser werden, was letztlich nur durch die Politik bestimmt und festgelegt werden kann.

Wir sind dabei, ein sog. Sanierungskonzept zu entwickeln und sprechen sehr intensiv mit unseren Partnern sowohl auf Lieferanten- als auch Kundenseite. Hier ist es sehr wichtig, dass wir Unterstützung bekommen. Hierbei hilft uns unsere langjährige und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit unseren Kunden, Lieferanten und Finanzpartnern. Alle bisher geführten Gespräche sind sehr offen und konstruktiv gewesen.

Ich bin optimistisch, dass wir durchkommen werden.

Da wir schon mit dem Verfahren gestartet sind, können die Kunden wie vorher bestellen und wir liefern aus. Ein wichtiger Punkt hierbei ist, dass wir sehr hohe Bestände haben, sodass die Lieferfähigkeit weitestgehend gegeben ist. Dabei ist es notwendig zu wissen, dass wir als nächstes die Werke herunterfahren, um Kosten zu sparen und die Liquidität aus den Beständen freizusetzen. Ich bin optimistisch, dass wir bald nach und nach die Werke wieder online bringen können, auch wenn das sicher nicht gleich auf Basis einer Vollauslastung sein wird.

Was wünschen Sie sich aktuell von Ihren Marktpartnern?

In einem Wort – Unterstützung! Wir arbeiten seit vielen Jahren mit unseren Kunden eng und fair zusammen. Hierbei haben wir stets eine nachvollziehbare und verbindliche Politik angestrebt und umgesetzt. Diese Politik werden wir nun auch so fortführen. Ich glaube, wir haben ein gutes Standing im Markt – auch wenn viele Kunden von der jetzigen Entwicklung überrascht waren – bleibt unsere gemeinsame Vergangenheit ein wesentlicher Bestandteil der Zusammenarbeit.

Zu dieser Vergangenheit gehört auch, dass wir über die Jahre unsere Kunden immer unterstützt haben und tragbare und faire Lösungen zu den Themen gefunden haben. Wir setzen darauf und ich bin zuversichtlich, dass wir jetzt und hier ebenfalls unterstützt werden. In den vielen Gesprächen, die wir mit unseren Kunden bereits geführt haben, wird uns diese Solidarität auch zugesagt. An dieser Stelle bedanke ich mich hierfür ganz herzlich.

Für uns ist die direkte Kommunikation, nach innen und nach außen, von elementarer Bedeutung. Hierbei suchen wir nicht nur das Gespräch mit unseren Vertragspartnern, sondern wir haben darüber hinaus bereits in der vergangenen Woche sehr breit in der Ebene unserer Warenempfänger und Ausstellungskunden über die Situation informiert. In der Lage sind wir sehr froh über einen Vertrieb zu verfügen, der sicher mit einer einmaligen Kontinuität im Markt aktiv ist und bis in die Führung und Steuerung in einem engen Verhältnis und Kontakt zu unseren Partnern steht.

Für uns ist die direkte Kommunikation, nach innen und nach außen, von elementarer Bedeutung.

Denken Sie, dass die schwierige Situation der Fliesenbranche demnächst auch im Ausland, speziell in Italien und Spanien, zu Insolvenzen und Firmenschließungen führen wird? Von dort werden auch drastische Rückgänge gemeldet.

Während wir sehr stark auf Deutschland und nahliegende Länder fokussiert sind, sind die italienischen und spanischen Hersteller weltweit unterwegs. Das kann vorteilhaft für sie sein, wenn diese Länder nicht mit Energiepreis- und Absatzproblemen konfrontiert werden. Aber auch Deutschland ist ein wichtiges Absatzland für die Hersteller – und das wird so bleiben – und insofern werden sie – was Absatz angeht – die gleichen Probleme haben wie wir.

Was Energie angeht, sind die Hersteller durch ihre Politiker unterstützt worden, was leider für unsere Industrie in Deutschland nicht der Fall war. Somit ist es vorstellbar, dass einige Unternehmen eine bessere Kapitaldeckung haben und zumindest eine Zeit lang besser mit den Problemen umgehen können.

Ob es Insolvenzen und Schließungen geben wird, kann ich nicht wirklich qualifiziert beantworten. Ich hoffe sehr, dass alle seriösen Marktteilnehmer durchkommen können und ebenfalls, dass die Nachfrage nachhaltig wieder steigt. Außerdem wünsche ich mir, dass wir wieder ein sog. Level Playing Field haben werden, wo Energiekosten nicht zu einem Wettbewerbsfaktor werden und wieder über Design, Qualität und Vertriebsunterstützung eine Differenzierung ausgespielt werden kann. So war es vor der Energiekrise.

Außerdem wünsche ich mir, dass wir wieder ein sog. Level Playing Field haben werden, wo Energiekosten nicht zu einem Wettbewerbsfaktor werden…

Glauben Sie, dass die Fliesenbranche durch die z.T. ruinösen Preiskämpfe der letzten Jahre nicht ein Stück weit selber an der aktuellen Situation Schuld trägt? Wird die Fliese unter Wert verkauft?

Ich denke hier muss man differenzieren. Zuerst möchte ich sagen, dass ich persönlich schon der Meinung bin, dass das Produkt keramische Fliese unter Wert verkauft wird – und das schon lange! Wenn man sich die Prozesse der Herstellung anschaut, erkennt man, dass Fliesen herzustellen kompliziert ist: Chargen, Kaliber, Oberflächen und Maßhaltigkeit sind einzuhalten, nur um ein paar wesentliche Faktoren zu benennen. Hierbei wird auf eine umweltgerechte Fertigung geachtet – beispielsweise geschlossene Wasserkreise in den Werken oder Schadstoff senkende Maßnahmen – und es ist richtig, dass die Umwelt nicht durch unsere Aktivitäten beschädigt wird.

Ich bin persönlich schon der Meinung, dass das Produkt keramische Fliese unter Wert verkauft wird – und das schon lange!

Die höchsten und schwierigsten Vorgaben für die Herstellung sind doch hier in Deutschland zu erfüllen und das verursacht Kosten. Wenn wir über Nachhaltigkeit sprechen, müssen wir verstehen, dass hierfür ein Preis verlangt wird. Daher sind zwangsläufig Fliesen Made in Germany teurer als Produkte, die aus Ländern kommen, wo diese Regelungen nicht gelten. Und dann muss adäquat investiert werden, um technologisch mithalten zu können und qualitativ gute und attraktive Produkte herstellen zu können.

Zum Produktionsaufwand kommen die Prozesse der Vermarktungsmaßnahmen dazu: Vertriebsunterstützung, Bemusterung, zeitnahe Belieferung und ja auch die Reklamationsarbeit.

Zuletzt ist es auch so, dass als Beispiel die Fliesen in einer Badrenovierung zum Einsatz kommen. Sie verursachen anteilig deutlich weniger Kosten als die Sanitäreinrichtungen. Preise werden ständig nachverhandelt – eigentlich unverständlich. Und das für ein Produkt, das einerseits funktionell und anderseits doch ein Lifestyle-Produkt ist, womit man über Jahre Lebensqualität erreichen kann. Apropos Nachhaltigkeit: eine Stunde im Ofen; über 20 Jahre im Einsatz! – die keramische Fliese. Auch das soll gesehen und im Preis abgebildet werden.

Preise werden ständig nachverhandelt – eigentlich unverständlich.

Glauben Sie, dass auch der Fliesenhandel in naher Zukunft von Insolvenzen betroffen sein wird?

Was ich wahrnehme ist, dass der Handel aktiv seine Kostenstrukturen überprüft. Das beginnt damit, dass die Bestände reduziert werden und die Ausstellungen nicht durchgehend geöffnet sind. Ich glaube schon, dass der Handel sich auf schwierige Zeiten einstellt und macht das, was er machen muss, nämlich handeln. Ich hoffe sehr, dass Insolvenzen vermieden werden können.

Ich glaube schon, dass der Handel sich auf schwierige Zeiten einstellt…

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