
Die Cersaie 2020 soll stattfinden, die Organisation bemüht sich, nach dem Motto „ Wo ein Wille ist…“ mit anerkennenswerter Energie, den widrigen Umständen eine Messe des Neuanfangs abzutrotzen. (siehe auch unser Bericht hier)
Für eine Vielzahl von entscheidenden Faktoren kann es aktuell noch keine sichere Antwort geben. Das weiß auch die Messeorganisation, aber damit werden alle Marktteilnehmer auf unbestimmte Zeit leben müssen. Der international mehr oder weniger stark ausgeprägte Stillstand hat als passiv hinzunehmende Einschränkung auf der Seite der Unternehmer, der Branche und der Messe ein Bedürfnis nach eigenverantwortlicher Handlung erzeugt. Das liegt in der Natur der unternehmerischen Tätigkeit.
Unter diesem Aspekt bietet die Cersaie als internationale Branchenplattform in einem Konzentrat an Zeit, Raum und Entscheidern den entsprechenden Rahmen, um im Lockdown und in der Krise verpasste Gelegenheiten aufzuholen und wegweisende Projekte auf den Weg zu bringen.
Aber kann es gelingen, die entsprechenden Bedingungen zu schaffen, so dass Aussteller, Besucher und alle weiteren auf der Messe tätigen Menschen in Sicherheit aus ganz Italien und aus dem Ausland anreisen, sich in Bologna bewegen, die Messe betreten, verlassen und sich innerhalb der Veranstaltung so bewegen, dass sie ihre individuellen Interessen (siehe oben) zielgerichtet verfolgen können?
Denn andererseits steht die Organisation der notwendigen Vorsichtsmaβnahmen unweigerlich in einem Widerspruch mit den individuellen Bedürfnissen und Zielen der Besucher und der Aussteller. Wenn sich die Besucher zwangsweise nur nach Voranmeldung zu bestimmten Zeitfenstern auf der Messe aufhalten können, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass es zu präzisen Terminvereinbarungen mit den einzelnen Gesprächspartnern kommen muss. Das ist mit gutem Willen bei bereits bestehenden Kontakten machbar und könnte sich durchaus auch positiv auswirken, aber bleibt dabei noch genug Spielraum für spontane Entdeckung von Neuem – dem eigentlichen Sinn einer Messe?
Wie kann eine straffe Terminplanung koordiniert werden mit einem flexiblen Handling der Besucherströme? Das wäre auch in „normalen“ Messezeiten schwer vorstellbar, geschweige denn in Zeiten, in denen auch in Bus, Bahn und Taxi Sicherheitsabstände gelten und diese vorhersehbar an ihre Grenzen geraten könnten. Dann auch noch Fieber messen und diverse Kontrollen und Vorgaben…
Und zum Thema Körpertemperatur: Messe im November, mitten in der Erkältungszeit. Wie viele der Angereisten werden dann wohl vom Fieberthermometer aussortiert, wie viele Termine werden dadurch platzen? Müssen diejenigen dann in Quarantäne? Wer trägt die Kosten für 14 Tage Hotel, geänderte Reisepläne, wer ist verantwortlich?
Aus meiner Sicht ist diese Aufgabe eine Quadratur des Kreises zwischen der Notwendigkeit, aufgrund der Ansteckungsgefahr so wenig Personen wie möglich durch die Nadelöhre Ein- und Ausgang zu manövrieren und dem Anspruch einer Messe, in kurzer Zeit so viele Menschen wie möglich zu produktiven Begegnungen zusammenzubringen. Das Ganze muss sich am Ende des Tages sowohl für die Messe als auch für die Aussteller rechnen. Wie kann die Formel aufgehen? Weniger Besucher, dabei niedrigere, gleichbleibende, höhere Standkosten?
Mit der fehlenden Planungssicherheit auf allen Ebenen mussten wir uns notgedrungen abfinden Aber kann sich bis zum 1. Juli objektiv schon herauskristallisiert haben, ob Italien eine internationale Reisewelle verkraftet, wenn bis zum 3. Juni selbst regionale Grenzen noch geschlossen sind und in Deutschland bis zum 14. Juni noch eine weltweite Reisewarnung für die ganze Welt gilt?
Schwer zu sagen. Aber irgendwann muss der erste Schritt zurück in Richtung alte Normalität getan werden. Es kann allerdings auch sein, dass etwas ganz Neues dabei herauskommt.
Alexandra Beckers persönliche Sicht auf Corona
Seit 1992 lebe ich mit meiner Familie in Verona und habe die verschiedenen Phasen vom Ausbruch bis zum monatelangen Lockdown und den allmählichen Ausstieg daraus vom Homeoffice aus erlebt. Die einzige Verbindung nach außen war über Monate mein Mann, der als Polizist beruflich unterwegs war. Unsere beiden erwachsenen Töchtern, beide Jurastudentinnen, konnten ihrem Alltag teilweise mit Onlinevorlesungen auch von zu Hause aus gut nachgehen. Die Provinz von Verona grenzt an die extrem stark betroffene Lombardei, in der nach wie vor ca. 50% der Corona-Fälle verzeichnet werden, mit allen Konsequenzen. Glücklicherweise haben in Verona und im Veneto die Einschränkungen rechtzeitig gegriffen, die dramatische Überlastung des Gesundheitswesens, das in der Lombardei auch in den Medien gezeigt wurde, konnte hier im Moment verhindert werden, die erste große Anspannung ist vorbei.
Wir haben alle das Bedürfnis nach Normalität, möchten wieder Pläne machen können… Der Sommer kommt und bringt im Juni den Studienabschluss meiner Tochter Carlotta mit einem traurigen Onlineexamen. Ob und wie das gefeiert werden kann, steht noch in den Sternen, sicher nicht mit dem ursprünglich geplanten Besuch des „Fanclubs“ aus Deutschland und aus Kalabrien.
Entfernungen und Grenzen haben plötzlich eine neue Dimension bekommen, sind teilweise unüberwindbar geworden, sogar auf dieser für uns bisher ganz selbstverständlichen Ebene. Was ist, wenn das jetzt über lange Zeit so bleibt? Das ist für mich privat und beruflich eigentlich das, was mir am meisten Angst macht. Denn diese Brücke über die Grenzen hinweg prägt mein Leben, privat und beruflich.
Deshalb habe ich bei der Cersaie sehr gemischte Gefühle. Ich wünsche mir so schnell wie möglich eine Situation, in der man wenigstens innerhalb Europas, zwischen Deutschland und Italien selbstbestimmt reisen kann. Andererseits möchte ich auf keinen Fall, dass das gefährdet wird, weil wir zu schnell zu viel wollen. Sollte es bei der aktuellen Planung bleiben, kann die Cersaie-Organisation erst einmal beobachten, was Ende September in Verona bei der Marmomac passiert. Da wäre ich dann wie jedes Jahr auch dabei…