Boizenburg Fliesen: Neues Umfeld, alte Regie
Interview mit Boizenburg Geschäftsführer Alexander Stenzel zur neuen Ausrichtung
Nachdem die Boizenburg Fliesen GmbH Ende Juni 2023 einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahren gestellt hatte ist die traditionsreiche Marke nun nach langen Verhandlungen gerettet. Eine Tochtergesellschaft der TWIN Technology AG Leipzig stellt die notwendige Finanzierung für die Fortführung der Marke und den Erhalt von Arbeitsplätzen. Über die Zukunft und Vergangenheit von Boizenburg unterhielt sich 1200Grad mit Alexander Stenzel, Geschäftsführer des Unternehmens.
Herr Stenzel: Werfen wir noch mal einen kurzen Blick zurück. Warum war eine Rettung des Unternehmens ohne fremde Investoren nicht mehr möglich?
Glauben Sie uns, wir haben alles versucht. Jedoch waren die Perspektiven im derzeitigen Marktumfeld mehr als schlecht. Stark rückläufige Absatzzahlen der Branche, eindeutig zu hohe Herstellkosten aufgrund der Energiesituation und volle Läger beim Kunden haben schlussendlich keine zuverlässige Planung zugelassen, die bei den derzeitigen Produktionsbedingungen in Boizenburg nachhaltig Liquidität geschaffen hätte.
Glauben Sie uns, wir haben alles versucht.
Wie haben Ihre Partner im Handel auf die Rettung unter neuer Regie reagiert?
Vielleicht sollten wir klarstellen, dass wir zunächst den Standort Boizenburg als Lieferant von Fliesen und die Marke “Boizenburg Fliesen” retten konnten. Wir haben ein neues Umfeld geschaffen, in der die alte Regie auch die neue ist. Nur mit neuen Paradigmen. Einer Vision und einer neuen Mission.
Selbstverständlich waren die Reaktionen unterschiedlich. In der derzeitigen Situation schauen die Marktteilnehmer mit einem kritischen Auge auf jede Veränderung. Vor allem, wenn das neue Konzept derart visionär und radikal ist. Wir haben jedoch in sehr vielen persönlichen Gesprächen ein positives Echo auf unseren Ansatz bekommen. Zudem werden wir bis zur Transformation des Werks in Boizenburg die Lieferfähigkeit unserer Produkte durch die Vergabe von Produktionsaufträgen nach Bremerhaven und ins Ausland gewährleisten können. Wir sind uns hier auch bewusst, dass wir Emissionen an anderen Orten erzeugen und auch Transportemissionen in Kauf nehmen müssen, aber das ist ein notwendiges Übel, um in der Übergangsphase unseren Standort am Leben zu erhalten.
Wir haben ein neues Umfeld geschaffen, in der die alte Regie auch die neue ist.
Ziel von Boizenburg Solarceramics ist es, keramische Fliesen unabhängig von fossilen Brennstoffen und mit solar-basierter Energieversorgung zu produzieren. Skeptiker sagen, eine Fliesen-Produktion mit Hilfe von Solarenergie wird in den nächsten fünf Jahren technisch nicht möglich sein und das sei mehr ein PR-Gag.
Wenn die Welt immer nur auf die Skeptiker gehört hätte, dann würden wir noch auf Lehmböden wohnen. Vielleicht nicht einmal das. Ohne einen Paradigmenwechsel ist eine Aufrechterhaltung der Produktion von Keramik in Deutschland nicht möglich. Lässt man alles beim Alten und bessert (und auch das belastet Liquidität) nur hier und da etwas nach, kostet das die Existenz. So unsere Lernkurve.
Ohne einen Paradigmenwechsel ist eine Aufrechterhaltung der Produktion von Keramik in Deutschland nicht möglich.
Die Leidtragenden werden wir schlussendlich alle sein, wenn wir nicht reagieren. Wenn wir es nicht schaffen, den deutschen Markt nachhaltig und stabil mit einem Mindestmaß an Produkten “Made in Germany” selbst zu versorgen. Wie sich eine Importabhängigkeit auswirken kann, sehen wir alle auf unseren Gasrechnungen und an den Zapfsäulen.
Ein Konzept mit dem Ziel, eine von fossilen Brennstoffen unabhängige Fliesenproduktion aufzubauen, ist in dem herrschenden politischen und wirtschaftlichen Umfeld das einzig nachhaltige und tragfähige. Ob es unser Konzept ist oder ein anderes, spielt dabei keine Rolle.
Dass es uns mit der Transformation ernst ist, musste spätestens zu dem Zeitpunkt klar gewesen sein, als die Metawolf AG (Nachfolgerin der TWIN Technology AG an beiden Standorten) das Nordceram-Werk in Bremerhaven der Solarceramics-Gruppe angegliedert hat. Wenn man bedenkt, dass der italienische Investor das Werk schließen wollte, ist dieses Engagement ein klares Bekenntnis zu “Made in Germany” und zu Arbeitsplätzen hier in Deutschland.
Die Norddeutsche Solarceramics wird ab April nächsten Jahres Produkte der Marke “Boizenburg Fliesen” herstellen, die von Boizenburg aus vertrieben werden. Schon jetzt werden wir auf freie Kapazitäten für die Produktion von Feinsteinzeug zurückgreifen.
Die ersten Solarmodule sind bereits in Boizenburg eingetroffen.
Zudem können wir berichten, dass wir bereits elektrische Öfen identifizieren konnten, die den Produktionsanforderungen für keramische Fliesen genügen. Desgleichen gilt für die Stromspeicherkomponenten für die Photovoltaik-Systeme. Diese werden von Metawolf Solar geliefert und die ersten Solarmodule sind bereits in Boizenburg eingetroffen. Die Implementierung von KI-gesteuerten Softwaresystemen zur Prozess- und Brennofensteuerung wird derzeit von mehreren Teams programmiert und getestet.
Die Kooperation der beiden Werke unter dem Solarceramics-Dach hat zudem ein hohes Synergiepotenzial. Die Zusammenführung von Knowhow, von Produktionskapazitäten und Logistik, ist die Chance für die Produktionsstandorte und für die Revitalisierung von Arbeitsplätzen in Deutschland.
Wird es Veränderungen im Bereich Produktentwicklung, Marketing, Preisgestaltung geben?
Grundsätzlich müssen wir uns zunächst darauf konzentrieren, was der Markt fordert und was wir dazu beitragen können. Wir planen hier gradlinig und bewusst, um unsere Standorte kontinuierlich in gesichertem Rahmen neu zu positionieren. Wir werden weiterhin unsere eigenen Produkte entwickeln, die wir allerdings, bis zur Transformation des Boizenburger Werks, in Bremerhaven oder Offshore produzieren lassen. Aber es bleiben unsere Produkte.
Unsere Preise sind markttauglich. Das zeigen die ersten Auftragseingänge. Aufgrund des momentan noch sehr kleinen Teams vermarkten wir unsere Produkte, die ab sofort alle wieder erhältlich sind, digital, über unseren Innendienst und mit einem kleinen Vertriebsteam, welches wir aber sukzessive ausbauen werden.
Grundsätzlich müssen wir uns zunächst darauf konzentrieren, was der Markt fordert und was wir dazu beitragen können.
Gibt es eigentlich für ein solches zukunftsorientiertes Projekt vom Land oder der EU Fördergelder, von denen Sie profitieren?
Die Europäische Union, die Bundesregierung und die Länder unterstützen nachhaltige Konzepte in allen Wirtschaftsbereichen. Auch in der Fliesenbranche. Wir gehen davon aus, dass eine Klimaneutralität, die nicht allein auf der monetären Kompensation durch Zertifikate beruht, also ein echtes Net Zero Projekt, gute bis sehr gute Chancen hat, gefördert zu werden. Allerdings werde nicht nur wir davon profitieren, sondern im Umkehrschluss auch die Gesellschaft.
Inwieweit profitiert auch t.trading von der Neuausrichtung in Boizenburg?
Die Aktivitäten der t.trading sind vollständig in die neue Firma integriert worden. Die Firma als solche werden wir nicht weiterführen.
Die Aktivitäten der t.trading sind vollständig in die neue Firma integriert worden.
Würden Sie sagen, Sie sind im Herzen mehr Händler oder Produzent?
Das ist eine gute Frage. Produzent zu sein ohne Händler zu sein, funktioniert unserer Meinung nach nicht. In keinem Werk. Dies ist bedingt durch die Vorgaben der vorhandenen Produktionsmittel, was Formate und Materialien angeht, als auch durch Kapazitätsgrenzen. Was das Thema Sourcing angeht, planen wir, nur das absolut Notwendige zuzukaufen. Wir wollen, besonders in Hinsicht auf unsere zukünftige eigene Produktion, unsere Produkte selbst entwickeln. So gesehen muss ich sagen, dass ich mich im Herzen, vielleicht im Gegensatz zu früher, mittlerweile als Produzent sehe.
Produzent zu sein ohne Händler zu sein, funktioniert unserer Meinung nach nicht.
Sie haben in der jüngsten Vergangenheit einige Manager aus der mittleren Führungsebene und dem Vertrieb verloren. Inwieweit konnten Sie diesen personellen Aderlass bislang ausgleichen?
Den Weggang der angesprochenen Personen bedauern wir wirklich, aber unsere derzeitige Situation verkraftet den Verlust. Unsere Planung ist derart realistisch vorsichtig, dass wir mit der Manpower und dem Knowhow derer, die dem Standort Boizenburg treu geblieben sind, die kurzfristigen Herausforderungen lösen können. Unsere Personalplanung wird sich nach unserer Entwicklung richten und wir sind hier zuversichtlich, dass wir, mit diesem nachhaltigen Engagement und dieser Idee einer der attraktivsten Arbeitgeber in der deutschen Fliesenbranche sein werden.
Unsere Personalplanung wird sich nach unserer Entwicklung richten…
Bis Ende 2022 sollte auch eine neue Terrassenplatten-Produktion in Aschersleben ins Leben gerufen werden. Was ist aus diesen Plänen geworden?
Die mehr als positive Rückmeldung unserer Kunden und auch bereits getroffene Zusagen hatten uns zum damaligen Zeitpunkt eine gute Perspektive eröffnet. Aber die Gesamtentwicklung hat uns gezwungen dieses Konzept zunächst ruhen zu lassen.
Haben Sie schon mit Tom Wolf gesprochen, ob er mit Ihnen auch auf die nächste Cersaie nach Bologna fährt?
Wir werden sehen. Lassen Sie sich überraschen.