Digitalisierung kann für viele Großhändler existenzbedrohend werden
Interview mit Unternehmensberater Berthold Hellmann zur Zukunft der Branche
Ist die Digitalisierung das Ende des klassischen Fliesenfachgroßhandels? Oder bietet sie neue Chancen für nachhaltig rentable Geschäftsmodelle? Diese und andere Fragen zur Zukunft des Geschäftes zwischen Industrie, Handel und Endkunden haben wir mit Berthold Hellmann von der Unternehmensberatung market1 diskutiert, die auf Kunden aus dem Bau- und Fliesenbereich spezialisiert ist.
Ist die Digitalisierung das Ende des klassischen Fliesenfachgroßhandels? Oder bietet sie neue Chancen für nachhaltig rentable Geschäftsmodelle?
Der Fliesenfachgroßhandel ist durch die Digitalisierung und ihren großen Einfluss auf den gesamten Transaktionsprozess und die Transaktionskosten besonders herausgefordert. Sein Nutzen, resultierend aus den betriebswirtschaftlichen Funktionen von der Überbrückung von Zeit und Raum wird stark gemindert werden. Mit direkten Vertriebskonzepten und dem Heben von Cross-Selling Potenzialen werden die Hersteller auch die Sortimentsbildung des Großhandels unter Druck setzen. Dabei wird auch seine Informationsfunktion unterlaufen. Seine Kreditfunktion, die im Fliesengeschäft eher langwelligen Konjunkturzyklen folgt, ist keine exklusive Kunst mehr.
Im Einzelhandelsbereich ‚Fliesen‘ – B2C – ist die Digitalisierung bereits weit fortgeschritten. Die damit verbundene hohe Transparenz führt zu Preisrückgängen und Margenverlusten.
Wie kann der Fliesenfachgroßhandel die Digitalisierung nutzen um sein Geschäftsmodell so zu verändern, dass er auch in Zukunft einen relevanten Mehrwert für seine Kunden bieten kann?
Im Einzelhandelsbereich ‚Fliesen‘ – B2C – ist die Digitalisierung bereits weit fortgeschritten. Die damit verbundene hohe Transparenz führt zu Preisrückgängen und Margenverlusten. In der Konsequenz gilt das besonders im Profihandel und kann für viele Großhändler existenzbedrohend werden. Als Ausweg bleibt nur eine grundlegende Veränderung des Geschäftsmodells. Doch dafür gibt es keine generelle ‚Blaupause‘. Der B2C-E-Commerce ‚färbt‘ zwar ab, aber vieles ist nicht eins zu eins auf das Geschäft mit Unternehmen übertragbar: Der B2B-Einkäufer ist zwar auch Konsument, kauft aber als Profi für sein Unternehmen ein! Die Umsetzung dieser speziellen Anforderung wird für viele Großhändler, Hersteller aber auch Dienstleister eine große Herausforderung werden. Wer mit seinen Produkten und Leistungen in den B2B-E-Commerce einsteigen will, muss jedoch zuerst nicht an die Technik denken, sondern an das ‚große Ganze‘. Strategische Überlegungen, wie z.B. der Einfluss auf die bisherigen Vertriebsstrukturen, die Auswirkungen auf die Mitarbeiter und Kunden oder auch das Konkurrenzverhalten zählen zu den Punkten, an die man im Vorfeld denken muss.
Welche Punkte sind denn besonders kritisch?
Zunächst geht es um die unternehmerische Grundeinstellung. Entscheidend ist die Bereitschaft nicht nur die Erwartungs- und Verhaltensänderung der Kunden zu erfüllen, sondern proaktiv die kundennahen Bereiche zu verändern. Die IT-Technologie bietet dazu viele Hebel, aber der Fliesenfachgroßhandel braucht dafür eine übergreifende Digitalisierungsstrategie – und spätestens hier wird klar: es geht nur in Zusammenarbeit mit der Industrie und den Profikunden. Das geht über die Art von bestehenden Kooperationsmodellen hinaus, weil der Markt in Zukunft nicht mehr so stark fragmentiert sein wird. Denken wir die Digitalisierung einfach einmal ‚vom Ende her‘, dann wird klar: Hersteller, Handel, Verarbeiter und auch Architekten / Planer müssen ‚digital‘ verzahnt werden. Hier zeichnen sich scheinbar unüberbrückbare Widerstandspotenziale ab, denn es sind ‚Machtfragen‘, die geklärt werden müssen! Es geht um Datenhoheit, Preis- und Kalkulationshoheit sowie um unerwünschte Transparenz.
Natürlich spielen auch ‚weiche Faktoren‘ eine Rolle – wie Vertrauen und Offenheit
Das klingt nach hoher Komplexität. Welcher Vorgehensweise empfiehlt sich denn für den Fliesenfachgroßhandel für eine erfolgversprechende Umsetzung?
In den notwendigen, tiefgehenden vertikalen Kooperationsmodellen spielen neben den ‚harten Faktoren‘ wie Managementqualifikation und Marktstärke natürlich auch ‚weiche Faktoren‘ eine Rolle – Vertrauen und Offenheit. Das müssen die jeweiligen Partner im Einzelfall entscheiden. Generell gilt aber, dass diese Kooperationsmodelle eher mit Unternehmen, die sich ebenfalls konsequent mit diesem Thema auseinandersetzen, möglich und machbar sind. Die marktführende italienische Fliesenindustrie ist zwar in der Fertigung hinsichtlich der Digitalisierung weit fortgeschritten – Stichwort ‚Industrie 4.0 – bei digitalisierten Marketing und Vertriebskonzepten dagegen aber weit zurück. Oft fehlt es an Grundlagen, z.B. an einem funktionalen Datenmanagement. Ohne geht gar nichts! Der Fachhandel und die Hersteller benötigen auch eine kompatible IT-Infrastruktur und eine leistungsfähige Organisation. Im kundennahen Bereich geht es um die Kohärenz von
· Planungs- und Visualisierungstools
· Virtual-/ Augmented Reality (‚Look & Feel‘)
· Integriertes Warenwirtschaftssystem – ERP / CRM / Social Media / Suchmaschinenoptimierung SEO
· Analytic Tools
Will sich eine derartige vertikale Hersteller / Fachgroßhandelspartnerschaft einen gemeinsam nutzbaren Wettbewerbsvorteil im Markt verschaffen, dann müssen die Informations- und Datenströme off- und online im Fachhandel zusammenlaufen und in den Rahmen des CRM integriert werden – DSGVO konform. Auf der Basis daraus abgeleiteter Analysen kann der Fachgroßhandel in die Offensive gehen, sei es mit ausgefeilten Logistikangeboten wie baustellenspezifische, taggenaue Materialkonfektion. Mit neuen stationären ‚Touchpoints‘, wie City-Shops oder Pop-up Stores in Neubaugebieten. Neue virtuelle ‚Touchpoints‘ sind ebenfalls zielsicher zu gestalten – z.B. eigenständige Themenshops für werkstattlose Generalisten oder markenspezifische Spezialshops.
Mit der Strategie ‚Abwarten & Tee trinken‘ werden viele Fliesenfachgroßhändler auf der Strecke bleiben!
Das erscheint logisch, aber wie soll denn zum Beispiel das sensible Thema Preisbildung und Margen in diesem neuen und kooperativen Geschäftsmodell gestaltet werden?
Hier liegt in der Tat ein ‚Knackpunkt‘! Ein Lösungsansatz liegt in einer prozessorientierten Leistungsmarge. Für die künftige betriebswirtschaftliche Tragfähigkeit eines Fliesenfachgroßhändlers ist eine prozessorientierte Leistungsmarge, die nicht mehr zwingend an den Verkaufsabschluss des Händlers gebunden ist, ein Ausweg. Einfach ausgedrückt: wenn Kunden ihre Fliesen direkt beim Hersteller online kaufen, der Fachhändler aber Beratungsleistungen erbracht hat, muss er dafür honoriert werden. Anders würde die ohnehin fragile Balance zwischen Hersteller und Fliesenfachhandel aus dem Gleichgewicht geraten. Am ehesten geeignet erscheinen hier gehobene Sortimente – ‚Marke‘ wird wieder wichtiger! – denn hier spielt die Beratung, und zwar die persönliche, eine ausschlaggebende Rolle. Stichwort ROPO-Effekt. Das bedeutet eine fundamentale Änderung im Preis- und Konditionensystem von Hersteller und Fachgroßhandel! Das hat zwar auch Risiken, aber – das ist meine feste Überzeugung – mit der Strategie ‚Abwarten & Tee trinken‘ werden viele Fliesenfachgroßhändler auf der Strecke bleiben!
Background market1
Berthold Hellmann war über 20 Jahre lang in Führungspositionen in Vertrieb und Marketing – national und international – in Unternehmen der Baustoffindustrie und des Fachgroßhandels tätig. Als Geschäftsführer für Marketing- und Vertrieb lag der Schwerpunkt seiner Beschäftigung bei Markenherstellern mit sowohl technischen als auch ästhetischen Produkten. Die unterschiedlichen Facetten des 3-stufigen Vertriebes als auch der direkten Absatzkanäle kennt er aus eigener Anschauung. Projekte in Europa und den USA sind dabei Grundlage für ein breites und differenziertes Repertoire an Erfahrungen. Seine Schwerpunkte liegen neben analytischen und strategischen Aufgabenstellungen vor allem auch in der pragmatischen Umsetzung.